Volksschulklassen werden analog zur zunehmenden Diversität in der Bevölkerung immer heterogener. Sind in der Folge Geschlechterverhältnisse für Primarpädagog*innen in ihrer Arbeit mit heterogenen Schüler*innengruppen überhaupt noch eine relevante Diversitätslinie? In der Analyse von Expert*inneninterviews mit zehn Lehrpersonen zeigt sich, dass nicht nur die Struktur der Klasse im Hinblick auf soziale Merkmale der Kinder, sondern auch das Diversitätsverständnis der Lehrpersonen die Relevanzsetzung von Geschlecht als Kategorie bestimmen. Außerdem wirken gesellschaftliche Diskurse auf die Thematisierung und Relevanzsetzung von Geschlechterverhältnissen im schulischen Feld.
An Schulstandorten mit großer Heterogenität scheint die Diversitätslinie Geschlecht zunächst in der Fülle der Differenzverhältnisse aus dem Blickfeld zu geraten, auch, weil vielen Lehrpersonen die Gleichstellung der Geschlechter als vollzogen erscheint. Gleichzeitig werden aber gerade jene Schüler*innen, die als „Andere“ marginalisiert sind, von Lehrpersonen vergeschlechtlicht dargestellt. Dabei werden politische und mediale Diskurse des Othering reproduziert, wie eine intersektionale Betrachtung der erhobenen Daten zeigen kann. Auch die Thematisierung durch Skandalisierung und Orientalisierung ist zu beobachten. Anders gestaltet sich dies in bewusst heterogen geformten Gruppen wie den Inklusions- und/oder Mehrstufenklassen: Geschlecht wird dort, wie andere Diversitätslinien auch, in idealisierter „Buntheit“ und mit hohem Individualisierungsanspruch aktiv unsichtbar gemacht – und damit auch die dennoch weiterbestehenden gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Relativ geringe Diversität in den Klassen hält den Blick auf Geschlecht noch vergleichsweise offen: Geschlechterverhältnisse bleiben damit thematisierbar.
Zusammenfassend: Die Arbeit zeigt, dass Wahrnehmungen und Zuschreibungen durch die Lehrpersonen auf wenig reflektiertem Alltags- und Erfahrungswissen basieren. Durch verbreitete Modernisierungsrhetoriken und die Reproduktion neoliberaler Diskurse werden bestehende geschlechterbedingte Ungleichheiten in Schulen kaum noch in Frage gestellt. Analog zu Prozessen in der Gesellschaft kommt es auch in Bildungskontexten zur Individualisierung von Problemlagen, die letztlich aus gesellschaftlichen Differenzverhältnissen erwachsen sind.